- Marshallplan: Hilfsprogramm zum Wiederaufbau Europas
- Marshallplan: Hilfsprogramm zum Wiederaufbau EuropasDie Deutschlandpolitik der USA nach der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 litt unter konzeptionellen Widersprüchen, und sie wurde zusätzlich belastet von wachsenden Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Siegerkoalition, insbesondere mit Frankreich und der Sowjetunion. Die Direktive JCS 1067, die General Dwight D. Eisenhowers Verhalten als Militärgouverneur bis zum endgültigen Friedensschluss leiten sollte, enthielt noch zahlreiche Elemente des von Finanzminister Henry Morgenthau jr. entworfenen Plans, der hauptsächlich auf die Zerstörung der deutschen Schwerindustrie — und damit die Grundlage der militärischen Macht des Reichs — abzielte. Präsident Franklin D. Roosevelt hatte sich zwar schon Ende 1944 vom Deindustrialisierungskonzept seines Finanzministers distanziert, aber die Vorstellung, eine erneute deutsche Aggression sei am besten durch die ökonomische Schwächung des Reichs zu verhindern, hielt sich in Washington wie auch in der amerikanischen Militärregierung in Deutschland, OMGUS (Office of Military Government for Germany, United States), recht hartnäckig. So war der alliierte Industrieplan von 1946 weiterhin darauf ausgerichtet, das militärische Potenzial der deutschen Wirtschaft durch Demontagen und Produktionsbeschränkungen dauerhaft zu verringern. Auch die Reparationsregelung sollte, anders als nach dem Ersten Weltkrieg, weniger der materiellen Wiedergutmachung als der Umstrukturierung der deutschen Wirtschaft dienen. Diese »harte Linie« fand zunächst viel Verständnis in der amerikanischen Öffentlichkeit, die von den Enthüllungen über deutsche Kriegsverbrechen schockiert war.Die Wende in der amerikanischen BesatzungspolitikIm Außenministerium überwogen aber von Anfang an Zweifel am Sinn und an der Realisierbarkeit eines solchen Kurses. Die meisten Experten gingen davon aus, dass der ökonomische Wiederaufbau Europas ein wirtschaftlich prosperierendes Deutschland voraussetzte. Die »Lage vor Ort« schien solche Auffassungen zu bestätigen. Unter dem Eindruck der schweren Zerstörungen, die der alliierte Bombenkrieg angerichtet hatte, kam es auf lokaler Ebene schon recht früh zur Zusammenarbeit zwischen amerikanischen Besatzungstruppen und deutschen Behörden, die im Laufe der Zeit immer vertrauensvoller wurde. Die amerikanischen Kirchen sahen es als Christenpflicht an, eine helfende Hand auszustrecken und das materielle Elend in Deutschland zu lindern. Millionen von Spendenpaketen gelangten ab 1946 über die private Organisation CARE (Cooperative for American Remittances to Europe) an bedürftige Familien und Gemeinden. Die Deutschen lehnten sich instinktiv an den mächtigen und reichen Sieger aus Übersee an, von dem sie mehr Verständnis als von ihren europäischen Nachbarn erhofften.General Lucius D. Clay, der als Vertreter und später als Nachfolger Eisenhowers die Besatzungspolitik ausführte, stand im Ruf eines Hardliners, handelte aber pragmatisch und unvoreingenommen. Er setzte sich entschieden für die Demilitarisierung der deutschen Wirtschaft ein, lehnte jedoch eine »ökonomische Bestrafung« des deutschen Volks ab. Im Alliierten Kontrollrat befürwortete er die Umsetzung der Potsdamer Beschlüsse und eine enge Zusammenarbeit mit den Sowjets. Er wurde zunehmend ungeduldig, als er erkannte, dass die Franzosen die Errichtung einheitlicher deutscher Wirtschaftsverwaltungen blockierten und die Sowjets ihre Besatzungszone rücksichtslos ausplünderten. Die von den sowjetischen Behörden praktizierte Entnahme von Reparationen aus der laufenden Produktion widersprach überdies den Plänen zur Umstrukturierung der deutschen Wirtschaft. Aus der Sicht Clays drohte die Gefahr, dass jede Besatzungsmacht ihren eigenen Weg ging und die USA auf Jahre hinaus gezwungen sein würden, die Bevölkerung in ihrer Zone aus Steuermitteln zu alimentieren. Deshalb forderte er ab Frühjahr 1946 in Washington energisch Maßnahmen zur Wiederbelebung der deutschen Wirtschaft, die es den Menschen ermöglichen sollte, wieder auf eigenen Füßen zu stehen.Innerhalb der Regierung Truman setzte um diese Zeit eine generelle Überprüfung der bisherigen Deutschland- und Europapolitik ein. Hierzu trugen Clays Berichte ebenso bei wie das berühmte »lange Telegramm«, das der junge Diplomat George F. Kennan am 22. Februar 1946 aus Moskau nach Washington schickte: Aufgrund einer scharfsichtigen Analyse des stalinschen Herrschaftssystems gelangte Kennan zu dem Schluss, dass die Ausbreitung des Kommunismus über ganz Europa nur verhindert werden könne, wenn die USA dazu bereit seien, den sowjetischen Expansionsdrang durch wirtschaftliche und diplomatische Gegenmaßnahmen dauerhaft »einzudämmen« (Politik des containment). Nach längeren internen Beratungen unterstrich der amerikanische Außenminister James F. Byrnes dann am 6. September 1946 in einer viel beachteten Ansprache in Stuttgart die Forderung nach wirtschaftlicher Einheit Deutschlands und bot dem deutschen Volk Unterstützung bei dem Versuch an, »seinen Weg zurückzufinden zu einem ehrenvollen Platz unter den freien und friedliebenden Nationen der Welt«. Die Vereinigung der amerikanischen und der britischen Zone zur Bizone zum 1. Januar 1947 erlaubte endlich eine konstruktive Beschäftigung mit den anstehenden wirtschaftlichen und politischen Problemen. Der Stimmungswandel in den USA bestätigte sich bei den Zwischenwahlen vom November 1946, als die oppositionellen Republikaner in beiden Häusern des Kongresses die Mehrheit errangen. Ihre Führer, wie Senator Arthur H. Vandenberg und John F. Dulles, akzeptierten die Verantwortung der USA als Weltmacht und waren bereit, wichtige außenpolitische Entscheidungen gemeinsam mit Präsident Harry S. Truman zu tragen. Das betraf zunächst das Engagement der USA auf dem Balkan, wo die Briten der Lage nicht mehr Herr wurden. Der Präsident begründete das Verlangen nach 400 Millionen Dollar Hilfsgeldern für die antikommunistischen Kräfte in Griechenland und der Türkei am 12. März 1947 in einer Rede vor dem Kongress mit der Trumandoktrin, die besagte, »dass es die Politik der Vereinigten Staaten sein muss, die freien Völker zu unterstützen, die sich der Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch Druck von außen widersetzen«. Obwohl Truman die Sowjetunion nicht namentlich nannte, war jedermann klar, dass er sie in erster Linie für diesen »Druck« verantwortlich machte.Das europäische Hilfsprogramm der USAMit dem Engagement für Griechenland und die Türkei trat die amerikanische Außenpolitik in eine neue, aktivistische Phase ein. Hatte man bis dahin die sowjetischen Zwangsmaßnahmen in Osteuropa als Ausdruck ihres Sicherheitsbedürfnisses interpretiert, so glaubte man nun, die langfristigen Absichten Moskaus zu erkennen: Offenbar zögerte die Sowjetunion eine Friedensregelung mit Deutschland hinaus, um das wachsende wirtschaftliche Chaos in Europa für politische Zwecke zu nutzen. Als Byrnes' Nachfolger, der General und ehemalige Stabschef George C. Marshall, Ende April 1947 von der erfolglosen Moskauer Außenministerkonferenz zurückkehrte, erklärte er im Rundfunk mit Blick auf Europa: »Die Kräfte der Auflösung machen sich bemerkbar. Der Patient stirbt, während die Ärzte beraten.« Nicht minder alarmierend fielen die Berichte aus, die der ehemalige Präsident Herbert C. Hoover und der für Wirtschaftsfragen zuständige Unterstaatssekretär im Außenministerium, William L. Clayton, dem Weißen Haus über ihre Reisen durch Europa erstatteten. Während der in karitativen Organisationen tätige Hoover die dramatische Notlage in Deutschland schilderte, malte Clayton den Kollaps des gesamten Kontinents an die Wand: »Ohne sofortige und substanzielle Unterstützung aus den USA wird Europa von wirtschaftlicher und sozialer Desintegration überwältigt werden.« Ein solcher Zusammenbruch werde allein der Sowjetunion und den von ihr gesteuerten kommunistischen Parteien zugute kommen. Wenn die amerikanische Regierung nicht umgehend handle, müsse sie über 11 Milliarden Dollar abschreiben, die sie seit Kriegsende als Nothilfe direkt oder über die UNO nach Europa vergeben habe.Am 5. Juni 1947 kündigte Marshall in einer Rede an der Universität Harvard ein umfassendes Hilfsprogramm für Europa an, dem allerdings zu diesem Zeitpunkt noch kein ausgearbeiteter Plan zugrunde lag. Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Regierung überbrückte Marshall mit dem Vorschlag, die USA sollten die Schirmherrschaft des Programms übernehmen, während die europäischen Staaten selbst für die Verwendung der Hilfen und die Koordinierung ihrer Volkswirtschaften sorgen müssten. Die Tür für die Sowjetunion ließ er mit dem Hinweis offen, dass sich die amerikanische Politik nicht gegen irgendein Land oder eine Ideologie richte, sondern »gegen Hunger, Armut, Verzweiflung und Chaos«. Im Kreml löste Marshalls Initiative eine heftige Debatte darüber aus, ob die Sowjetunion amerikanische Hilfe annehmen oder ob man lieber auf den Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaft setzen sollte. Nachdem sich die moderate Fraktion durchgesetzt hatte, reiste Ende Juni 1947 eine sowjetische Delegation unter Leitung von Außenminister Wjatscheslaw Michajlowitsch Molotow zu Verhandlungen nach Paris. Dort wurde aber rasch deutlich, dass die Vorstellungen der Briten und Franzosen auf der einen und der Sowjets auf der anderen Seite zu weit auseinander lagen, um ein gemeinsames Handeln zu ermöglichen. Molotow lehnte jedes Mitentscheidungsrecht der USA über die Verwendung der Hilfsmittel ab und weigerte sich auch, die eigenen Wirtschaftsdaten offen zu legen. Die Westeuropäer wiederum nahmen Molotows spektakuläre Abreise am 2. Juli 1947 erleichtert auf, weil sie befürchteten, dass die Sowjetunion nur teilnehmen wollte, um das Programm von innen heraus zu sabotieren. In Washington hoffte man noch einige Zeit, dass sich Polen und die Tschechoslowakei, die großes Interesse gezeigt hatten, am Marshallplan beteiligen würden. Das Veto Stalins wagte jedoch keine Regierung im sowjetischen Machtbereich zu missachten. Flankiert wurde es von einer heftigen antiamerikanischen Propagandakampagne und von geheimen Anweisungen an die kommunistischen Parteien in Westeuropa, den Marshallplan zu bekämpfen.Struktur und Wirkung des MarshallplansDie Amerikaner und die Westeuropäer ließen sich von dem einmal eingeschlagenen Weg aber nicht mehr abbringen. Auf Einladung Großbritanniens und Frankreichs nahmen im Juli 1947 in Paris 14 weitere Staaten den Vorschlag Marshalls an und bildeten das Komitee für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit als Ansprechpartner für die USA. Derweil begann in der amerikanischen Öffentlichkeit und im Kongress eine intensive Debatte über den Marshallplan. Um genaue Zahlen zu erhalten und die Kritiker auszumanövrieren, berief Truman mehrere Expertenkommissionen ein, in denen neben Regierungs- und Kongressvertretern auch Repräsentanten der amerikanischen Wirtschaft und der Gewerkschaften saßen. Die Lösung, die sie dem Präsidenten unterbreiteten, basierte auf dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe: Vorausgesetzt die Westeuropäer zögen an einem Strang, dann könnten sie mithilfe der USA durch ein konzentriertes, auf vier Jahre begrenztes Programm die Wende zum Aufschwung schaffen. Zunächst gelte es, die »Dollarlücke« zu schließen, das heißt, den europäischen Ländern einschließlich der Westzonen Deutschlands die Einfuhr lebenswichtiger Nahrungsmittel, Rohstoffe und Investitionsgüter aus den USA und Lateinamerika zu ermöglichen. Um die dauerhafte Gesundung und Selbsterhaltung der europäischen Wirtschaften zu erreichen, müsse Washington die Teilnehmerstaaten aber verpflichten, eng zu kooperieren und die europäische Einigung anzustreben. Auf dieser Grundlage verabschiedete der Kongress im April 1948 ein entsprechendes Gesetz, dessen Kern das Europäische Wiederaufbauprogramm (ERP) bildete. In der Öffentlichkeit wurde das ERP — gegen den Willen Marshalls — bald nur noch Marshallplan genannt. Als amerikanisches Pendant zur Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC), die aus dem Komitee hervorgegangen war, sah das Gesetz die Economic Cooperation Administration (ECA) vor. Zu ihrem Chef ernannte Truman den Unternehmer Paul G. Hoffman, der zu den eifrigsten Befürwortern eines vereinten Europas gehörte. Die ECA wurde von dem Sondergesandten W. Averell Harriman in Paris vertreten und unterhielt darüber hinaus Missionen in sämtlichen Teilnehmerländern. ECA und OEEC verwalteten und verteilten gemeinsam die Haushaltsmittel, die der Kongress, beginnend mit dem Haushalt 1948/49, jährlich bewilligte.Um den Einfuhrbedarf der europäischen Staaten zu decken, stellten die USA bis 1952 amerikanische Rohstoffe und Waren im Wert von rund 13 Milliarden Dollar kostenlos oder zinslos zur Verfügung. Der Hauptmechanismus des ERP bestand darin, dass die europäischen Importeure diese Güter nicht in Dollar, sondern in der jeweiligen Landeswährung bezahlten und das Geld auf nationale ERP-Fonds überwiesen. Da Zinsen und Abtrag zurückflossen, wurden die Fonds zu einer Dauereinrichtung: In Deutschland verwaltet die Kreditanstalt für Wiederaufbau diese Gelder, mit denen sie seit 1990 vornehmlich Projekte in den neuen Bundesländern finanziert.Der Marshallplan als Anstoß zur europäischen IntegrationÜber das Schließen der »Dollarlücke« hinaus enthielt der Marshallplan ein langfristiges wirtschaftliches und politisches Reformprogramm. In ökonomischer Hinsicht ging es den Planern darum, durch den Abbau der innereuropäischen Handelsschranken und die Erleichterung des Zahlungsverkehrs die Voraussetzungen für einen einheitlichen Binnenmarkt zu schaffen. Nur ein von solchen nationalen Hemmnissen befreites Europa schien in der Lage zu sein, in anderen Teilen der Welt die Devisen zu erwirtschaften, mit denen es nach Auslaufen des Programms die erforderlichen Einfuhren aus dem »Dollarraum« bezahlen konnte. Die USA unterstützten diese Entwicklung, indem sie ihre Zölle absenkten und auf die generelle Liberalisierung des Welthandels hinwirkten.Der Marshallplan lag insofern im Eigeninteresse der USA, als er dazu beitrug, die Aufnahmefähigkeit des europäischen Markts für amerikanische Rohstoffe und Industrieprodukte zu erhöhen. Andererseits bestand die Absicht nicht darin, Westeuropa ökonomisch von den USA abhängig zu machen. Vielmehr wurde die amerikanische Hilfe als lebensrettende »Bluttransfusion« konzipiert, die eine permanente Subventionierung verhindern sollte. Nach der erfolgreichen Operation würde, so sah man richtig voraus, privates amerikanisches Kapital das Aufbauwerk zum beiderseitigen Nutzen fortsetzen. Der wirtschaftlichen Modernisierung Europas dienten ferner Austausch- und Kulturprogramme, die europäische Unternehmer, Gewerkschafter, Politiker, Wissenschaftler und Journalisten mit amerikanischen Methoden und Techniken der Massenproduktion und der Werbung vertraut machten. Damit verstärkte der Marshallplan den Trend zur Amerikanisierung, der bereits in den 1920er-Jahren bemerkbar gewesen war und sich nun auf breiter Front in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur durchsetzte.Auch aus politischen und strategischen Gründen drängten die USA die westeuropäischen Staaten zu einem möglichst engen Zusammenschluss. Dabei waren sich die meisten Amerikaner darüber im Klaren, dass die politische Einigung des Kontinents nur allmählich und schrittweise zu bewerkstelligen sein würde. Man wollte aber damit beginnen, das in der Alten Welt bis zum Exzess getriebene Prinzip der nationalen Souveränität abzubauen, um eine geschlossene Front gegen das weitere Vordringen des Kommunismus errichten zu können. Vorrangig war 1948/49 die Frage der Integration des entstehenden westdeutschen Staats in dieses neue Europa zu lösen. Wenn die »wirtschaftliche Entwaffung« im Sinne des Morgenthauplans keine Lösung versprach, dann blieb als einziger Weg zu einem dauerhaften Frieden die feste Einbindung des Weststaats in westeuropäisch-atlantische Strukturen und die Wiederbelebung seiner wirtschaftlichen Kraft im Dienste der europäischen Nachbarn. Die Hauptverantwortung für eine solche produktive Bändigung und Kanalisierung der deutschen Energien wollten die Amerikaner zunächst den Briten aufbürden, die auch finanziell den größten Nutzen — vor Franzosen und Italienern — aus dem Marshallplan zogen. Erst als sich die Labour-Regierung unter Berufung auf das Empire und die besonderen Beziehungen zu den USA strikt weigerte, die ihr zugedachte Führungsrolle in einem solidarischen Westeuropa zu spielen, setzte man in Washington auf die Franzosen, die mit dem Schumanplan 1950 und der Montanunion 1951/52 die traditionelle Rivalität zwischen Deutschland und Frankreich im Bereich der Schwerindustrie beseitigten und so die Weichen für ein kontinentales »Kerneuropa« stellten. Die am amerikanischen Modell orientierten Vereinigten Staaten von Europa blieben aber vorerst, wie das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954 bewies, eine politische Utopie.Die historische Bilanz des MarshallplansDer Marshallplan gilt heute als gelungene Verbindung von planerischen und marktwirtschaftlichen Elementen und — trotz einiger Fehlkalkulationen — als beispielhaftes Programm der multilateralen Krisenüberwindung. Erleichtert wurde dieser Erfolg dadurch, dass Europa über eine gesunde ökonomische Basis verfügte und nur maßvolle Impulse von außen benötigte, um auf den Wachstumspfad zurückzukehren. Auch wenn die exakten Wirkungen der von 1948 bis 1952 aufgewendeten 13 Milliarden Dollar in den einzelnen Ländern schwer zu bestimmen sind, so kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass der Marshallplan als Hilfe zur Selbsthilfe materiell und psychologisch die Grundlagen für den Wiederaufstieg Europas nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen hat. Die Hilfe wurde sicher nicht selbstlos gewährt, aber die Westeuropäer akzeptierten den amerikanischen Führungsanspruch, weil sie die Gelder dringend benötigten und weil sie allein zu schwach waren, um einen dritten Weg zwischen den USA und der Sowjetunion zu beschreiten. Das trifft in besonderer Weise für das besiegte Deutschland zu, das nicht nur von den 1,4 Milliarden ERP-Mitteln und von weiteren amerikanischen Hilfsleistungen im Wert von zusätzlichen 1,6 Milliarden Dollar profitierte, sondern das über den Marshallplan den Weg zurück in die Gemeinschaft der demokratischen Staaten und in die Weltwirtschaft fand. Der Vorwurf der revisionistischen Geschichtsschreibung, die USA hätten mit dem Wiederaufbauprogramm die Teilung Deutschlands und Europas zementiert, war nie überzeugend und geht nach den Ereignissen von 1989/90 vollends ins Leere. Die verhängnisvolle Abschottung Ostdeutschlands und Osteuropas vom Weltmarkt war in letzter Instanz nicht von den USA, sondern von der Sowjetunion veranlasst. Demgegenüber brachte der Marshallplan den Wirtschaftskreislauf in Westeuropa wieder in Gang und trug maßgeblich dazu bei, die transatlantischen Beziehungen als Kern des Weltwirtschaftssystems zu rekonstruieren.Prof. Dr. Jürgen HeidekingWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Europa: Integration als Antwort auf die östliche HerausforderungGeschichte, Politik und Gesellschaft, Band 2: Die Großmächte. Internationale Beziehungen. Deutschland nach 1945, herausgegeben von Berthold Wiegand. Frankfurt am Main 1988.
Universal-Lexikon. 2012.